Wie alles begann... Teil 2
Achtung: TRIGGERWARNUNG! Ich schreibe hier offen über
Suizidgedanken und Selbstverletzung, wenn du psychisch nicht stabil bist, würde
ich dir empfehlen, diesen Beitrag nicht zu lesen.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten bemerkte
ich, dass diese Selbstverletzungsaktionen immer mehr zunahmen. Ich war geradezu
süchtig danach. Wenn es mir nicht gut ging, einfach ein paar Mal mit einem
Messer oder einer Schere in den Arm schneiden, das Blut betrachten, welches
warm über die verletzte Haut lief, das fühlte sich irgendwie gut an. Es fühlte
sich fast nach einer Befreiung an. Aber nur fast. Wenn ich emotional nur etwas
Abstand genommen hatte, spürte ich die Schmerzen und die Scham wurde groß, dass
jemand die Wunden sehen und mich für verrückt halten könnte. Das wollte ich
nicht. Ich wollte nach außen hin funktionieren. Innerlich leiden, aber nach
außen nichts davon ausstrahlen. Ich kaufte mir Verbände in der Apotheke, damit
ich mich selbst verbinden konnte. Trug Oberteile mit langen Ärmeln. Wenn es
nicht anders ging und eine Nachfrage zu den Ritzen im Arm gab, sagte ich, ich
habe zuhause eine lebhafte Katze. Neben der Ritzverletzungen kam noch dazu,
dass ich herausfand, dass die Methode „Kopf gegen die Wand schlagen“ dieselbe
Wirkung der „Befreiung“ hatte. Manchmal schlug ich zehn bis zwanzigmal meinen
Kopf gegen einen Türrahmen. Bald darauf schienen die Selbstverletzungen immer
mehr werden zu müssen. Wenn ich mich ritzte und nicht sofort Blut floss, wurde
ich wütend. Ich wollte mir so gerne tiefer in die Arme schneiden, aber das ließ
mein, doch sehr sensibles, Schmerzempfinden nicht zu. Ich wollte, dass Narben
blieben, wenn die Wunden verheilt waren. Wenigstens darüber wollte ich
Kontrolle haben. Kontrolle über meinen Körper. Er fühlte sich mir so fremd an.
Ich war nicht zufrieden, nicht zufrieden mit mir, wie ich aussah, wer ich war.
Anscheinend war ich falsch, wenn mich niemand haben wollte. Andere konnten doch
Beziehungen führen und wurden geliebt, ihre Liebe wurde angenommen,
wertgeschätzt, aber was war mit meiner? Meine Liebe schien niemand zu wollen.
Ich fühlte mich klein und hässlich, konnte manchmal nicht in den Spiegel sehen
und wenn, dann wollte ich ihn zerschlagen. Wenn jemand sagte, ich sei hübsch,
beschuldigte ich ihn, zu lügen, damit ich mich besser fühlte. Ein
Selbstwertgefühl schien zu dem damaligen Zeitpunkt nicht zu existieren.
Im Frühjahr 2016 fing ich mein Studium an. Die Leute
in meinem Semester waren nett, aber mir fremd. Ich konnte mit ihnen nicht viel
anfangen. Sie schienen toller und cooler zu sein als ich. Zu ihren Homepartys
wurde ich nicht eingeladen. Es ergab sich ab und zu ein kurzer Smalltalk, von
dem ich allerdings überhaupt kein Fan bin und vielleicht merkte man mir das an.
Ich war zwar mittendrin, aber nicht dabei. Es fehlte eine Grundlage, ein fester
Freund bzw. eine feste Freundin. Damit meine ich keine Liebesbeziehung, sondern
eine Beziehung basiert auf Freundschaft. Freundschaften sind unheimlich wichtig
für Menschen und werden zu oft unterschätzt. Freunde sind Personen, denen man
vieles anvertrauen und mit ihnen reden kann, wenn man nicht mehr weiterweiß.
Über meine Probleme habe ich mit fast niemanden geredet. Es war nicht so, dass
ich keine Freunde hatte, aber ich wusste nicht, mit welchen ich darüber reden
sollte. Ich wollte niemanden mit mir überfordern.
So richtig eskaliert ist die Situation für mich im
Juni 2016. Es war eines Morgens, ich musste zur Uni und traf in der
Gemeinschaftsküche auf einen Mitbewohner. Wir verstanden uns nicht wirklich
gut, sodass es schon einmal keine gute Ausgangslage gab. Ich kann mich nicht
mehr genau an Einzelheiten erinnern, aber ich weiß, dass es eigentlich nur eine
Kleinigkeit war, ich glaube es ging um Müllrausbringen und dass dies mein
Dienst in der Woche war oder so etwas. Auf jeden Fall kritisierte mich mein
Mitbewohner für etwas, was ich noch nicht getan hatte und noch tun sollte.
Leider bin ich ein Mensch, der mit Kritik nur schlecht umgehen kann und gerade,
wenn diese noch in einem herablassenden Ton mir gegenüber geäußert wird,
schalte ich oftmals auf Durchzug. Und so endete die Diskussion mit meinem
Mitbewohner in einem Streit, indem ich ihn anschrie und wütend die Küche
verließ. In meinem Zimmer war die Wut wieder einmal so unglaublich groß, sie
nahm den ganzen Raum ein, in meinem Kopf, in meinem Zimmer. Es bräuchte
Stunden, um wieder runtergefahren zu sein. Aber ich musste doch zur Uni. Ich
musste mich abregen, jetzt. Ich war wütend, dass die Situation so eskaliert war,
gerade jetzt am Morgen und ich gerade so und nicht anders reagiert habe. Die
beste Lösung schien mir, wie damals so oft, das Messer. Aber jetzt sah man es
doch, ich hatte wieder meinen Unterarm dafür benutzt. Doch es war mir egal.
Sollte doch alle anderen sehen, dass ich leide. In der Uni sagte niemand was.
Es war schon fast eine Erleichterung für mich, auch wenn ich mitleidige Blicke
in meinem Rücken spürte. Ein paar Tage später sprach mich aber doch eine
Kommilitonin an. „Hey, ich habe gesehen, dass du frische Verletzungen an deinem
Arm hast, wenn du willst, kannst du mit mir darüber reden.“, sagte sie zu mir.
„Ähm, klar mach ich“, erwiderte ich, aber wusste natürlich im selben Atemzug,
dass ich das nie machen würde. Warum sollte ich mit jemanden fremden darüber
sprechen, wenn ich schon mit niemanden vertrautem darüber reden konnte? Und
wenn, was sollte ich sagen? Dass ich das gemacht habe, weil ich zu
kritikempfindlich war? Oder weil ich jemanden liebte, der mich partout nicht
wollte? Das ich jeden Tag an der Station umsteigen musste, an der der Mensch
wohnte, den ich so sehr liebte, machte es für mich nicht einfacher. Und gerade,
weil ich, wie sollte es anders kommen, ihm dort eines Tages über den Weg lief. Als
ich im Frühjahr versuchte, mir eine Beziehung mit einer anderen Person
aufzubauen, hatte ich nochmal ein Date mit ihm, welches wieder nicht gut lief,
mir aber wieder Hoffnung verschaffte. Dass er mich angeschrieben hatte und mich
um ein weiteres Date gefragt hatte, machte das alles nicht besser. Und auch
danach kam wieder nichts. Sondern ich war mit meiner leeren Hoffnung wieder
allein. Dass es irgendwann sicher noch einmal dazu kommen würde, dass er seine
Meinung zu mir ändere, mich anfangen würde zu lieben und wir zusammenkämen.
Alle anderen waren bis dahin nur Ersatz. Und nun sah ich ihn, auf dem Weg zur
Uni an mir vorbeilaufen. Ich rannte ihm hinterher, damit er mir ja nicht
entwischen konnte. Rief seinen Namen. „Wie
geht’s dir?“, fragte ich. Er sah einfach unheimlich gut aus. „Gut“, antwortete er. „Und dir?“ „Mir auch. Willst du
mich nochmal wiedersehen?“ „Naja, also erstmal nicht“, meinte er. Erstmal.
Erstmal. Erst. Einmal. Die Worte die er sagte, sagten so viel aus und ich
klammerte mich an dieses eine, verdammt hoffnungsschimmernde Wort. Erst einmal
nicht. „Naja, ich meine damit eher, dass ich dich nicht wiedersehen möchte“,
fügte er noch hinzu, nachdem er sah, wie die Hoffnung in meinen Augen bei
diesem Wort aufschimmerte. Rumms! Vorbei war es mit der Hoffnung. Erstmal nicht
wurde zu nie. Jetzt würde ich ihn wohl nie wieder in meinem Leben sehen. Die
ganze Fahrt im Bus über weinte ich.
Eines Morgens, ich musste an dem Tag eigentlich ein
Referat halten, wusste ich, dass es nicht mehr so weiter ging. Ich hatte mal
wieder Selbstverletzungsgedanken im Kopf und fühlte mich nicht in der Lage, zur
Uni zu fahren. Ich vertraute mich einem Mitbewohner an und zusammen gingen wir zu
dem Leiter des Wohnheims, der mit mir in das erste Krankenhaus fuhr. Ich
verbrachte den ganzen Sommer über in einer offenen Psychiatrieabteilung.
Im Nachhinein betrachtet kann ich sagen, dass die
früheren Erlebnisse der toxischen Beziehung, das frühe Ausziehen von meinen
Eltern, die neue Einsamkeit in der WG, wenige Freundschaften und die Ablehnung
des jungen Mannes dazu führten, dass ich mich so schlecht fühlte. Für viele
Menschen ist das zwar auch erst einmal etwas Neues mit denen sie lernen müssen
umzugehen, aber wenn man eine psychische Instabilität hat, dann sind solche
kleinen Dinge dafür verantwortlich, dass man sein ganzes Sein infrage stellt. Auch
heute noch weiß ich nicht wirklich, wen ich als meinen besten Freund oder beste
Freundin bezeichnen soll, ich bin immer wieder einen längeren Zeitraum mit
Menschen in Kontakt, die mir wirklich sehr am Herzen liegen, aber jeder
einzelne von ihnen ist kein wirklich fester, fundierter Bestandteil in meinem
Leben. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass jeder sein eigenes Leben führt
und mit eigenen Problemen zu kämpfen hat oder einfach andere Menschen wichtiger
sind, wie der Partner oder die Partnerin. Trotzdem kann ich heute von mir
sagen, ich habe Ressourcen die ich nutzen kann, die ich früher noch nicht
hatte. Ich habe einen Plan von meinem Leben, zumindest einen beruflichen Plan.
Der private, partnerschaftliche Teil ist derzeit im Stillstand, ich hoffe auch
Veränderung und bin offen für neues, für unkonventionelle Lebensweisen.
Ich selbst benutze das Wort „Borderlinerin“ übrigens
nicht so gern. Für mich ist das Worte sehr stigmatisierend, es schiebt einen
gleich in das Raster „Oh je, sie muss eine schlimme Kindheit gehabt haben“ oder
„Solchen Menschen sind sehr manipulativ, man muss bei denen aufpassen“ ab.
Natürlich gibt es Menschen mit Borderline, die eine schlimme Kindheit hinter
sich haben und die in verschiedenen Situationen absichtlich, wie unabsichtlich,
manipulativ reagieren. Ich halte beides bei mir für eher unwahrscheinlich.
Borderline hat bei einigen Menschen auch einen großen genetisch-biologischen
Einfluss. Was ich dazu sagen kann ist, dass mir in den letzten Jahren Menschen
mit Borderline begegnet sind, die allesamt unglaublich sensibel auf ihre Umwelt
reagiert haben und ihre Handlungen die Folgen darauf waren. Was ich damit sagen
will ist, dass „Borderliner“ keine schlechten Menschen sind, die das Lebens der
anderen Person bewusst durcheinanderbringen wollen, sondern, dass viele nicht
wissen, wohin mit ihren Gefühlen, die im Kopf ein großes Durcheinander
verursachen. Die Gesellschaft hat eine Aufgabe gegenüber diesen Menschen mit
besonderem Bedacht entgegenzutreten. Gerade, weil sie aufgrund der Schnelllebigkeit,
Oberflächlichkeit und dem Leistungsdruck immer mehr Menschen mit psychischen
Störungen produziert. Dabei sind wir alle gefühlvolle Lebewesen, die sich mit
Liebe und nicht mit Hass begegnen sollten.
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