(Mein) Leben in der Isolation
Das was ich jetzt schreibe, könnte aus einem
Science-Fiction-Roman, der in einer fernen Zukunft spielt, stammen. Aber es ist
die Realität. Die pure Realität. Wir schreiben Frühjahr 2020. Der
Ausnahmezustand ist in den westlichen Ländern angekommen. In den Ländern, die
sich als fortgeschritten und friedvoll verkaufen, in den Ländern, in denen es
seit knapp achtzig Jahren keinen Krieg mehr gab. Wo Frieden herrscht und jeder
sein Leben so gestalten kann, wie er es möchte. In den Ländern, wo Menschen
entscheiden können, welches Familienmodell für sie am besten ist und in welches
ferne Land sie ihren nächsten Urlaub buchen.
In diesen Ländern sitzen nun die
Menschen zuhause, die Regierung hat ihnen verboten rauszugehen. In diesen
Ländern, sterben jeden Tag Menschen, hundert bis tausende an den Folgen einer
tödlichen Krankheit. In diesen Ländern herrscht Krieg, so nennen es viele
Staatsoberhäupter. Kein Krieg, wie man ihn sich üblicherweise vorstellt. Es ist
ein Krieg gegen eine Krankheit. Die, die uns alle treffen könnte, vor der
keiner geschützt ist. Die Menschen bekommen auf einmal Angst und geraten in
Panik. Niemand weiß gerade, was richtig und was falsch ist. So ein Gefühl, des
Nichts-Wissens, der Isolation, des Nichts-Tun Könnens, ja ein Gefühl, dass der
Ohnmacht gleicht, kannte bislang noch niemand hier. Die Nachrichten und die
Politiker sagen, es ist die größte Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir
leben in einer schweren Zeit. Das was wir gerade durchstehen ist für uns alle
nicht einfach. Doch wie sieht es mit Menschen mit einer oder mehreren
psychischen Erkrankungen aus? Sie haben es noch schwerer als die „gesunden“.
Alleine in seiner Wohnung isoliert, schafft neue psychische Herausforderungen.
Gerade wenn man alleine lebt, keine*n WG-Partner*in hat, keine*n festen Lebenspartner*in,
nicht mehr die Familie besuchen kann. Was bleibt dann noch? Die Gedanken
kreisen sowieso schon den ganzen Tag um bestimmte Dinge, mit denen man sich
beschäftigt. Man kommt immer tiefer ins Grübeln, man gerät in eine Spirale des
Denkens, immer tiefer und tiefer. Dort unten sieht es düster aus. Nähe zu
anderen Mitmenschen ist so wichtig und viele benutzen dies als Skill, als
Ventil um sich aus der Gedankenspirale zu befreien. Doch jetzt fällt auch das
weg. Man sitzt zuhause, am Anfang war es noch in Ordnung, es gibt genug Dinge
mit denen man sich beschäftigen kann. Jetzt ist die Zeit, wo man endlich mal
nichts tun kann und darf, sagen die einen, jetzt ist die Zeit, wo man endlich
mal alle Sachen schafft, zu denen man sonst nicht kommt, sagen die anderen. Und
der zweite Punkt ist ein Problem für mich. Die Leistungssteigerung stieg in den
letzten Wochen enorm an, Instagramer und Influencer zeigen ihr tägliches Home-Workout,
die Arbeitgeber und Universitäten verlangen, dass man seine Tätigkeiten ins Homeoffice
verlegt, Zeit der Gesinnung und der Ruhe ade. Mir geht es nicht anders. Ich
habe viele Hobbys für die ich nun scheinbar mehr Zeit habe. Mir ist aufgefallen,
ich interessiere mich für so viele Dinge, dass ich es nicht schaffe mich jeden
Tag mit allen zu beschäftigen. Da ist Spanisch, was ich unbedingt lernen
möchte, meine Jonglageskills möchte ich verbessern, mehr Texte als sonst
schreiben, mir mehr Zeit nehmen um interessante Bücher zu lesen, mal wieder
Gitarre spielen, jeden Tag ein Workout machen und dann ist da noch meine
Bachelorarbeit. Ich merke wie gestresst ich davon werde, dass ich nicht jeden
Tag das schaffe, was ich mir vorgenommen habe, jetzt muss jede Minute
durchgeplant sein und nicht verschwendet werden. Einfach nur faul rum liegen,
das funktioniert für mich nicht. Die Medien sagen, in der Quarantäne wird man
auf jeden Fall zunehmen, da die tägliche Bewegung fehlt. Dazu kommt, dass man
aus Langeweile anfängt, ungesundes in sich reinzustopfen. Schokolade, Chips,
Gummibärchen sind so verlockend und dazu kriege ich noch Lust meine Back- und
Kochkünste wieder auszupacken, doch es niemand da, mit dem ich mir den
selbstgebackenen Kuchen teilen kann. Ich habe täglich Angst davor zuzunehmen,
vor zwei Jahren habe ich aufgrund von Medikamenten ziemlich viel zugenommen,
aber mittlerweile einiges auch wieder abgenommen. Die letzten fünf Kilo um zu
meinem damaligen Ausgangsgewicht Ende 2017 wieder zurückzukehren fehlen mir
noch und ich würde sie so gerne in diesem Jahr verlieren. Doch aufgrund der
aktuellen Situation fällt das gerade schwer und ich merke, dass ich bereits über
ein Kilo wieder zugenommen habe. Das ärgert mich. Ich will nicht fett werden.
Ich will mich als solches nicht definieren und auch nicht so von anderen
definiert werden. Auch wenn ich weiß, dass ich eigentlich meilenweit entfernt
von dem Begriff „fett“ bin, gerate ich dennoch in Angst, wenn ich abends nach
dem Abendessen auf der Couch beim Serien gucken ein wenig Lust auf etwas
Essbares verspüre, dass sich dies bereits am nächsten Morgen auf der Waage
bemerkbar macht. Ich mache deswegen fünf Tage die Woche morgens Sport, eine
halbe Stunde wenigstens, aber besser wäre eine Stunde, ich gehe nachmittags
eine Stunde spazieren um möglichst viele Schritte zu gehen. Wenn ich etwas
weitere Wege habe, nehme ich das Fahrrad, um auch dort noch ein paar Kalorien
zu verbrennen. Trotzdem kommt immer wieder die Stimme in meinem Kopf auf, das
genügt noch nicht, ich sitze dennoch zu viel zuhause rum. Vor wenigen Tagen kam
ein richtiger Hass auf meinem Körper in mir auf, ich hasste meinen kleinen
Bauch, meine schwabbeligen Oberschenkel, meinen etwas zu großen Po… und die
Waage zeigt einfach keinen Erfolg an. Ich fing an zu weinen, da die Angst so
groß ist wieder auf die 80 Kilogrenze zu zugehen. Der Gedanke ist so groß die Kontrolle
über das eigene Essverhalten zu verlieren. Ein weiterer Laster, den ich zurzeit
mit mir noch mehr rumtrage, ist das Rauchen. Ich rauche eigentlich nicht viel,
gelegentlich mal was, wenn ich Stress habe. Oder Langeweile. Oder wenn ich mit
mir selbst beschäftigt bin. Die Corona-Zeit, ist die Zeit in der man endlich
mit dem Rauchen aufhören kann, höre ich immer wieder in den Medien. Nein, es
ist wahrscheinlich die Zeit, in der man mit dem Rauchen richtig anfängt oder in
der es Menschen noch schwerer fällt damit aufzuhören, weil man den ganzen Tag
zuhause ist und sich so schwer ablenken kann. Das merke ich auch gerade. Ich
habe mir kurz vor dem Kontaktverbot noch etwas Weed besorgt, eigentlich weil
ich frei von der Uni hatte und diese Zeit meistens nutze um Cannabis zu
rauchen. Jetzt merke ich wie süchtig ich eigentlich bin. Das war ein Punkt den
ich mir nie eingestehen wollte, ich kann doch jederzeit wieder aufhören, wenn
ich will. So einfach scheint das nicht mehr zu sein. Ich merke wie sich meine
Gedanken darum kreisen, wenn ich es nicht tue, dass sich das „abendliche auf
der Couch sitzen und einen rauchen“ von einem gelegentlichen Ritual zu einer
Gängigkeit entwickelt hat, die mir nicht gefällt. Ich werde nervös, wenn ich
einen Tag nicht rauche, freue mich darauf es bald wieder tun zu können und
kriege ein wenig Panik, wenn ich sehe, wie mein Weedvorrat schrumpft. Wäre das
noch nicht genug, spüre ich immer wieder ein Stechen in meiner Brust und
manchmal ein Schmerz in meinem Arm. An manchen Tagen bemerke ich auch etwas Kurzatmigkeit.
Ich gerate in Panik, da dies ernste Anzeichen sein könnten, die auf etwas
schlimmeres hindeuten. Wenn ich alleine da liege und die Schmerzen spüre, ist
es manchmal unaushaltbar für mich. Ich neige zu Hypochondrie, einer anerkannten
psychischen Störung, wie ich gerade erst erfahren habe. Dass ein guter Freund
mir letztens nahegelegt hat, dass ich mal zu einem Facharzt gehen solle, da es
Menschen gibt die einen angeborenen Herzfehler haben, es aber nicht merken,
macht das Ganze nicht besser. Ich fühle mich zu jung zum Arzt zu gehen, weil
ich angeblich was mit dem Herzen habe. Das haben doch nur alte Menschen, rede
ich mir ein. Aber die Schmerzen in meinem Körper machen mir Angst und ich frage
mich immer wieder ob ich sie mir einbilde oder ob sie real sind. Dennoch spüre
ich weiterhin Verlangen nach einem Joint. Ich bin innerlich unruhig.
Mittlerweile geht die Ausgangssperre in die fünfte Woche und langsam verspüre
auch ich als introvertierter Mensch, das nur alleine sein auf Dauer nicht gut
ist. Anfangs hatte ich mich noch mit einem Mann getroffen, wir haben uns kurz
vor dem Corona-Ausbruch kennengelernt und uns gedatet. Aber auch die Treffen
sind weniger geworden. Mittlerweile schreiben wir uns noch nicht einmal mehr.
Dabei war er sowas wie ein Anker in dieser Zeit, wir haben sehr viel
miteinander geschrieben und telefoniert, ich war begeistert, dass mir ein Mann so
viel Aufmerksamkeit schenkt. Doch leider haben wir gemerkt, dass wir in einigen
Themen unterschiedlicher Meinung sind und es doch irgendwie nicht passt. Dazu
kam natürlich auch, dass man eigentlich keine fremden Menschen aus einem
anderen Haushalt treffen darf und er Angst um seine Schwester hat, mit der er zusammenwohnt
und mit meiner Arbeit nicht zurechtkommt, da ich dort mit vielen Menschen in
Kontakt bin.
Dabei ist die Arbeit ein Ankerpunkt an den ich mich noch klammere
und den ich nutze um aus dem Haus zu kommen und andere Menschen zu sehen. Ich
arbeite in einer Notunterkunft für obdachlose Menschen, sie bietet ihnen Schutz
in der kalten Zeit. Aber nicht nur Schutz vor der Kälte, sondern wir versuchen
so gut es geht auf die obdachlosen Menschen zu achten, ob jemand Symptome
zeigt, denn die Angst vor dem Virus ist auch auf der Straße groß. Und natürlich
muss man auch bei uns Mitarbeitern darauf achten, da wir ein erhöhtes Infektionsrisiko
eingehen. Doch die kalte Zeit geht bald zu Ende, wir gehen langsam auf den
Sommer zu und somit schließen auch die Kältehilfeeinrichtungen. Ich habe noch
diesen Monat Arbeit, danach weiß ich gerade nicht wie es weiter geht. Wie es
finanziell weitergeht. Ich habe noch eine weitere Arbeit, bei der ich ein
Mädchen betreue und einen engen Kontakt zu der Familie pflege. Doch auch sie wollen
meine Hilfe in der Zeit nicht. Es ist schon komisch, man kommt sich ein wenig
abgestoßen vor. Als würde man etwas schlimmes in sich tragen.
Ein weiterer Punkt, um den ich mich sorge, ist mein
Vater. Mein Vater hat eine psychische Krankheit, er lebt mit Schizophrenie und
auch für ihn ist die Zeit nicht einfach. Für ihn stehen die Zeichen schon lange,
dass wir in der sogenannten „Endzeit“ leben und das Ende der Welt nahe ist. Und
wenn ein tödliches Virus um die Welt geht und bereits „psychisch gesunde“
Menschen sich in die Welt der Verschwörungstheorien begeben, dann ist es für Menschen
mit einer schwerwiegenden psychischen Krankheit umso schwerer. Ich mache mir
deswegen auch um meine Mutter sorgen, denn sie lebt mit ihm zusammen und
bekommt alles mit. Wir reden gelegentlich darüber, aber ich denke, dass sie mir
nicht alles erzählt, auch um mich zu schützen. Ich hoffe nur, dass mein Vater
dieses Jahr ohne einen Aufenthalt im Krankenhaus übersteht.
Ich habe auch etwas Zukunftsängste. Ich sehe meinen
Traum, im Herbst, nach dem Ende meines Studiums ins Ausland zu gehen, dort zu
arbeiten und zu reisen, in Gefahr. Denn die Reisebeschränkungen werden sicher
noch eine Weile weiter bestehen, vielleicht kann es sich bis zu zwei Jahren
hinziehen. Ich hatte eigentlich nicht vor, direkt nach dem Studium in einen
typischen Job mit Festanstellung zu rutschen. Denn dann ist man mittendrin im
Alltagstrott und ich habe Angst, dass ich mich somit von meinen eigentlichen Wünschen
und Träumen entfernen könnte, da mich dieser Job dann in Sicherheit wiegt. Ich
will aber so gerne die Welt entdecken. Ich werde noch bis Ende des Sommers
abwarten. Dann wird es Zeit für einen Plan B.
Die Zeit in der wir leben ist merkwürdig. Sie macht
einem Angst, denn sie ist unsicher. Wir müssen einen Weg finden damit
umzugehen. Mit der Einsamkeit, der Isolation, der räumlichen Trennung, der
Ängste und der Verschiebung unserer Lebenspläne. Aber ich bin mir sicher, das werden
wir überstehen. Irgendwie.
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